Entwurfsprojekt
Das kommende Buch
Barbara Junge, Wim Westerveld, Knut Ebeling, Benedikt Weishaupt, SS 2017
Kooperationsprojekt mit der École des Beaux-Arts de Bordeaux, EBABX.
In »Memory Palace« schildert Hari Kunzru seine Vision Londons einige hundert Jahre in der Zukunft, in der ein magnetischer Sturm jegliche globale Infrastruktur ausgelöscht hat. Ein Großteil der Welttechnologie und des Wissens ist verloren, der Klimawandel ist Realität und die Natur erobert die Stadt zurück. Bücher und jede andere Form der Erinnerung sind von der Regierung verboten –
Nur eine kleine Gruppe versucht, die alte Kunst der Erinnerung zu pflegen …
So weit ist es noch nicht, was aber sicher ist: Das gedruckte Wort ist eng mit Geschichte und Fundament unserer Gesellschaft verwoben. In diesem Projekt soll es um den Shift vom Print zum Digitalen gehen, vom Papier zu Bits and Bytes. Damit verbinden sich dramatische Änderungen in der Art und Weise, wie wir unsere Welt, immer mehr vermittelt durch technische Medien, wahrnehmen. Was bedeutet die Digitalisierung für das Lesen als Kulturtechnik und unsere Informationskultur?
Dieses Projekt bietet die Möglichkeit, sich auf verschiedenen Ebenen mit dem Thema zu beschäftigen: Wir werden sowohl praktisch neue Formen des Lesens ausloten, als auch uns inhaltlich mit aktuellen gesellschaftlich-technologischen Entwicklungen im Bereich digitaler Informationskulturen auseinandersetzen. Im Folgenden beschreiben wir mögliche Ansätze, die in der Gruppe erweitert und abgewandelt werden können:
Obwohl die Diskussion über das zukünftige Lesen und das Verschwinden der traditionellen Buchform schon einige Jahren geführt wird, kann noch keine Rede sein von einem Verschwinden des Buches. Trotzdem: es lohnt sich gerade für GestalterInnen die Frage nach der Aufgabe und Funktion von Büchern in unterschiedlichen Kontexten – digital, analog oder beides kombiniert – zu untersuchen. Dient das Medium Buch der reinen Unterhaltung, der Selbstdarstellung, der Bildung, der Aufklärung oder ist das Medium noch ganz anders denkbar? An welchen Orten wird was auf welche Weise gelesen? Was bedeutet das für die Typografie? Und was bedeutet vernetztes, soziales Lesen? Welche Möglichkeiten gibt es, digitale Bücher neu zu denken und digitales Lesen zu einem ebenso reichen, kuratierten und sinnerfüllten Erlebnis zu machen, wie wir es von herkömmlichen Printprodukten her kennen?
Im Semester sollen Ideen/Projekte zum zukünftigen Buch entwickelt werden, wobei neue Arten von Lesen im Fokus stehen: zB ein interaktives Kinderbuch, Lernbuch, oraler Lyrikbündel (Klang- und Tongedichte), lineare-/nicht-lineare Sachtexte, redigierte Berichterstattung, eine neue Darstellung der Geschichte oder Wiedergabe der Erinnerung. Das Spektrum kann von spielerisch-experimentellen bis zu umsetzungsfähigen Anwendungen reichen.
Seit Brexit, Trump, etc. ist die Diskussion um die Digitalisierung wieder in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Um nur einige Entwicklungen zu nennen: ... Soziale Medien haben die Nachrichten geschluckt und bedrohen zunehmend die Finanzierungsbasis seriöser Berichterstattung. Fake-Nachrichten erscheinen gleichförmig und gleichberechtigt neben aufwändiger journalistischer Arbeit. ... »In den Echokammern fühle man sich so wohl wie die von den faszinierenden Schattenbildern gefesselten Gefangenen in Platons Höhle.« sagte der Medientheoretiker Norbert Bolz. ... Die alte Idee eines Netzes, in dem Hyperlinks ein nicht hierarchisches und dezentralisiertes Netzwerk von Informationen bilden, wurde weitgehend durch Plattformen ersetzt, die zunehmend dahingehend designed werden, Nutzer innerhalb ihrer Mauern zu halten. ... Google arbeitet seit 2015 an einem neuen Mechanismus, der Wahrhaftigkeit in seine Such-Rankings einbeziehen soll. Dafür werden Fakten in einer Datenbank gespeichert – in der sog. „Knowledge Vault“. Dass eine kommerzielle Suchmaschine sich zutraut, einzuschätzen, was »Wahrheit« ist, sollte zu denken geben. ... Eine Studie der kalifornischen Stanford-Universität zeigte Ende 2016, dass 80 Prozent der Jugendlichen nicht News von Werbung im Netz unterscheiden können, ... ect. pp.
Was all diesen Phänomenen gemeinsam ist, und was ihre Lösung so dringlich macht, ist, dass sie alle mit dem abnehmenden Status von Wahrheit zu tun haben. Die früheren zentralisierten Eins-zu-Viele-Medien boten zumindest eine Form von Konsens, der das Erfassen von „Wahrheit“ eher ermöglichte. Es war schon immer ein Problem (nicht nur) der Medien, dass es meistens keinen unmittelbaren Zugang zur Wirklichkeit gibt. Nun macht sich – bedingt durch die digitalen Medien und ihre permanente Unmittelbarkeit und Gleichwertigkeit von Informationen – eine immer größere Unbestimmtheit und scheinbare Austauschbarkeit von ehemals sich widersprechenden Konzepten und Weltanschauungen breit, die der politischen Rechten neuen Auftrieb gibt.
Die Untersuchung dieser Phänomene bietet sich an, um sich methodisch-angewandt mit Themenfeldern wie zB Design Fiction / Speculative Design / journalistischem Design auseinanderzusetzen. Der Begriff »Design Fiction« wurde v.a. durch den Science-Fiction-Schriftsteller Bruce Sterling geprägt. Seine Definition ist: Design Fiction is »the deliberate use of diegetic prototypes to suspend disbelief about change«. Ziel von Design Fiction ist es, mittels Visualisierung, Simulation und Narration in der Gegenwart zukünftige Entwicklungen glaubhaft sichtbar zu machen und so Handlungsoptionen anzubieten. Beispiele: Agatha Haines – Bioprinting https://vimeo.com/79409328 oder Lena Panzlau – »1t CO2. Eine Utopie«.
In der zweiten Woche wird es eine Einführung zu den Themen Designfiction und Virtual Reality von Benedikt Weishaupt geben. In der dritten Woche ist ein Besuch von französischen Studierenden der École des Beaux-Arts de Bordeaux, EBABX, und Prof. Jean Calens in Berlin geplant. In dieser Zeit wird eine theoretisch-praktische Workshop-Woche mit Knut Ebeling stattfinden, es werden Texte von Walter Benjamin und Maurice Blanchot gelesen. Diese beiden Wochen sollte für die Interessierten des Projektes frei gehalten werden.
Dies ist ein gemeinsames Projekt mit Prof. Dr. Knut Ebeling / Theorie & Geschichte, der 2015 ein Projektseminar gehalten hat mit dem Titel »Das Buch brennt. (Künstler-)Buchtheorie nach Blanchot«. Seine These ist, dass man das Buch erst aus der Distanz eines anderen Mediums, also des digitalen heute, klar sehen kann und dadurch begreifen kann, was es ist oder war. Und zweitens, dass sich – nach Friedrich Kittler – jedes Medium an seinem Ende (also gerade jetzt) in Kunst verwandelt. Darauf weist nicht nur der Boom des Buches als Designobjekt, sondern auch der anhaltende Künstlerbuch-Boom.
Als Gäste werden wir BuchgestalterInnen und ExpertInnen zu technologisch-gesellschaftlichen Entwicklung einladen: Andrea Nienhaus (Electric Book Fair / e-Book-Festival), Aram Bartholl (datenform.de), Urs Hofer (Automatisieren von Video- und Buchgestaltung).
Exkursionen zur Sammlung Kunstbibliothek SMB Berlin, Deutsche Nationalbibliothek Leipzig. Angedacht ist auch ein Besuch des Buchmuseums Dresden, Plantin Moretus Antwerpen und FABLab Berlin.
Mieke Gerritzen, Geert Lovink, Minke Kampman: I read where i am
Ruben Pater:
The Politics of Design: A (Not So) Global Manual for Visual Communication
Christopher Williams: The Production Line of Happiness
Alex Coles: EP VOL. 2 / Design Fiction
Douglas Coupland: The Age of Earthquakes: A Guide to the Extreme Present
Julieta Aranda: E-flux Journal: The Internet Does Not Exist
Matthew Fuller Andrew Goffey: Toward an evil Media Studies
xenopraxis.net/readings/fuller_goffey_evilmediaSHORT.pdf