Wintersemester 2015/2016, BA/MA Textil- und Material-Design
Manipulation
Wachsende Oberflächen
Manipulation bedeutet eine gezielte und verdeckte Einflussnahme, also sämtliche Prozesse welche auf eine Steuerung des Erlebens und Verhaltens von Einzelnen und Gruppen zielen und diesen verborgen bleiben sollen.
Der Schleimpilz ist ein Wesen, das sich zur Manipulation eignet. Er ist weder Pflanze, Pilz noch Tier, aber er reagiert auf chemische Reize, hat Lichtrezeptoren und kann Wärme wahrnehmen. In seiner aktiven Phase ist er darauf programmiert zu fressen, zu wachsen und sich fortzupflanzen. Er läuft ohne Beine und frisst ohne Mund. Mit pulsierenden Bewegungen wächst er zu einem komplexen Netz aus adernförmigen Strängen mit großen und kleinen Verästelungen. Die Stränge funktionieren wie Pipelines, die von der Fraßfront nach hinten führen. Der Schleimpilz ist aber auch ein echter Verwandlungskünstler. Zuerst „Beutetier“, wird er im Streben nach Fortpflanzung zu einem unbewegten, pflanzlichen Wesen. Er bildet dünne Stengel, darauf Samenkapseln die durch den Wind verbreitet werden. Trockenheit kann seinen Lebenszyklus zumindest temporär stoppen. Wenn es ihm nicht möglich ist, an einem feuchten Ort Unterschlupf zu finden, greift er zu seinem letzen Verwandlungstrick. Er fährt die Pulsrate herunter bis zum Stillstand, wird fest und verfällt in eine Trockenstarre. In diesem Stadium ist aus dem großflächigen, lebendigen Wesen ein trockener Farbklecks geworden. Sobald die Feuchtigkeit zurückkehrt, erwacht er erneut zu einem pulsierenden Schleim.
Um den Schleimpilz fremdbestimmen zu können gilt es ihn zunächst besser kennenzulernen und mehr über seine Vorlieben und Abneigungen herauszufinden. Der Schwerpunkt liegt weniger auf der Funktion und dem Material als vielmehr auf der Interaktion mit dem Untersuchungsobjekt. Wie kann auf das Verhalten und die Erscheinung des Schleimpilzes Einfluss genommen werden und was bedeutet es eigentlich einen lebenden Organismus fremdzubestimmen. Als Instrumente der Manipulation dienten dabei der jeweilige Untergrund für seine Bewegung (auf Agerose und Filterpapier bewegt er sich gerne, auf Baumwollstoff weniger), Substanzen, die er meidet (Salz und Zitronenkristalle), der Einsatz von Licht und vor allem die Bereitstellung von Nahrung (z.B. Haferflocken). Mit der Nahrung als Zentrum seiner Handlungen wird er zu einem leichten Opfer der Manipulation, dessen Wachstum und Wege gezielt kontrolliert werden können.
Der gestalterische Teil des Projekts stellt analog zu den vorausgegangenen Interaktionsexperimenten die interaktive Funktionalität eines Materials in den Vordergrund. Entwickelt wurde eine Membran, die ein ähnliches Wachstumsverhalten zeigt wie der lebendige Schleimpilz in der Versuchsreihe. Vom Betrachter werden Impulse gegeben, die von der Membran in eine Reaktion umgesetzt werden.
Die Rolle des Schleimpilzes übernimmt ein „Superabsorber“, der ein vielfaches des eigenen Gewichts an Flüssigkeit aufnehmen kann. Im Ursprungszustand handelt es sich um granulatartiges Pulver, das bei Zugabe von Wasser zu einem Gel aufquillt, das Wasser wird in seinen langen Molekülketten einlagert. Die Aktivierung dieses Reflexes kann wie bei einem Reizreaktionsmuster beliebig oft wiederholt werden. Mit Hilfe des Superabsorbers lässt sich eine Oberfläche schaffen, die zwischen einer zweidimensionalen und einer dreidimensionale Form wechseln kann. In der dreidimensionalen Form entstehen Muster, die sonst nicht sichtbar sind. Nach Verdunsten des Wasser kehrt sie wieder in ihre ursprüngliche, neutrale Form zurück.
In weitergehenden Anwendungsüberlegungen werden die Formveränderungen der Membran mit ihrer Fähigkeit der Feuchtigkeitsspeicherung und -abgabe kombiniert. Sie bietet damit einen geeigneten Untergrund für die Anpflanzung kleiner Gewächse, z.B. Kräutern. Nicht nur die Membran selbst kann wachsen und ihre Form verändern, sie bietet auch die Grundlage für das Wachstum eines in seiner Form manipulierbaren, geometrisch gestalteten (hängenden) Kräutergartens.