Wintersemester 2009/10,
Bühnenbilder
BÜHNENBILDER
1 DIE ORTE UND IHRE BILDER
Zwischen den Orten der Stücke und den Räumen und Bildern
der Inszenierungen bestehen Unterschiede.
Botho Strauß gibt für LEICHTES SPIEL Neun Personen einer
Frau nicht wirklich Räume, sondern nur variable Elemente vor.
Jürgen Rose entwirft eine Folge von Kunststationen, die ohne
direkten Zusammenhang im leeren Raum der Bühne aus ihr
entstehen, in ihr wieder verschwinden. Dazwischen erscheinen
sie wie Ausstellungsobjekte, die sich auf die jeweilige Situation
des Stückes beziehen: Tür, Treppe, Konferenztisch; nicht als
Mobiliar eingesetzt, sondern als freistehende künstliche
Objekte.
IDOMENEUS von Roland Schimmelpfennig: Für den unbestimmten
Ort der Geschichte dreht die Inszenierung die Verhältnisse
um. Der Zuschauerraum wird zur Bühne, die Bühne
zur Zuschauertribüne. Der Zuschauerraum des Cuvilliés
Theaters als Museum, aus dem heraus die Geschichte des
Idomeneus entdeckt, entwickelt, erinnert wird. Eine Wiederkehr
des Gedächtnistheaters der Renaissance: Der Zuschauer findet
seine Erinnerung, sein Wissen mit und durch die Akteure.
EIN MOND FÜR DIE BELADENEN von Eugene O’Neill: Das
Farmhaus ist, gelinde gesagt, nicht gerade ein Musterbeispiel
neuenglischer Architektur, es fügt sich nicht perfekt in die
Umgebung, es wirkt nicht harmonisch verwachsen mit der
Landschaft. Es wurde offensichtlich im Ganzen an seinen gegenwärtigen
Standort transportiert. ... Und so fort, und immer
detaillierter.
Bei Stefan Hageneier sehen wir ein in den Zuschauerraum hineinragendes
flaches Podest mit einer Rückwand, unmittelbar
vor ihr ein sie weitgehend verdeckendes Billboard, eine große
Werbefläche mit wechselnden Bildern des US-amerikanischeuropäischen
Traums. Klischees, die unmittelbar mit dem armseligen
Leben der „Helden“ des Stückes kontrastieren, Bilder,
wie wir sie aus der Glücksverheißung der Medien kennen. Und
ein Paar schäbige Objekte: Stühle, eine kleine Treppe ins Leere,
Müll. Alles konkret, nichts naturalistisch.
Marivaux, DIE UNBESTÄNDIGKEIT DER LIEBE:Die Szene ist im
Palast des Prinzen. In dem Raum von Franziska Bornkamm
wird der historische Kontext des Cuvilliés Theaters verstanden
als Inszenierung seines Dekorums, die über die Bühne und die
Rampe fortwuchernde Inszenierung eines Raumes, des Rokokotheaters,
der prätentiösen Eitelkeit wie der groß angelegten
Absicht, zu imponieren und damit zu verführen.
DIE VERSCHWÖRUNG DES FIESKO ZU GENUA: Saal, Stadt,
Straßen, Hafen und vieles mehr schreibt Schiller vor. Bei
Helmut Staubach und Uwe Kuckertz die Entwicklung eines
Raumes, der ein Innen und Außen, oder vielleicht ein Inneres
gegen ein anderes Innen begrenzt. Dynamisch, ein Spiel mit
dem Ausschnitt.
MOLIÈRES MISANTHROP: Kein Haus, kein gebauter Salon.
Der Ausschnitt des Portals so weit auf der Bühne nach hinten
verschoben, dass ein Gelände mit historisch aussehenden
Stühlen entsteht. Ohne Milieu, aber mit der Authentizität der
Funktion, die hier eine Topografie entstehen lässt und eine
Spur der Bewegungen im Raum. Der Ausschnitt als Versprechen
der Perspektive ohne deren Einlösung.
ANDROMACHE von Jean Racine: Die Szene ist in Buthroton in
Epirus, in einem Saal von Pyrrhus’ Palast. Dagegen setzt
Alexander Müller-Elmau mit dem Knochenberg ganz auf ein
Zeichen: die Geschichte des gerade beendeten Krieges unter
Einbeziehung der archaischen Vorzeit.
IPHIGENIE AUF TAURIS von Johann Wolfgang Goethe. Eine
unterirdische Insel. Die Tradition einer Kultstätte; vom Opfer
zur Verehrung mit Kerzen und Heiligenbildchen. Ein Raum
von Christian Sedelmayer, der historisch-kulturelle Schichten
zeigt, die Überlagerung des Schlachthauses mit der Kultur
des Humanen.
DER ZERBROCHNE KRUG von Heinrich von Kleist: Statt eines
niederländischen Dorfes bei Utrecht baut Bernhard Hammer
einen Raum im Raum, ein Objekt: zunächst ein Schneefeld,
dann ein Schneeregen, ein schmelzender Plafond über einem
Gelände, das damit spielt, dass sich die Figuren nicht nahe
kommen, weder in der Horizontalen noch in der Vertikalen.
WOYZECK: Bei Büchner Szenen im Draußen, im Zimmer, in der
Arztpraxis, im Wirtshaus, in wüster Gegend. Die Szene Martin
Zehetgrubers: Die Welt als Abfall. Aber nicht als die Müllhalde,
sondern als eine Sammlung der irrelevanten Überreste der Gesellschaft.
Ihr Gemeinsames der Müllsack, der aber nicht als
Müll, sondern durch seine Verpackung ästhetisch wahrgenommen
wird und als Gelände jede Bewegung der Schauspieler prägt.
TOD EINES HANDLUNGSREISENDEN: Arthur Miller stellt sich
Willy Lomans Haus und Hinterhof so vor: Vor uns das Haus des
Handlungsreisenden. Dahinter bemerkt man turmartige, rechtwinklige
Formen, die es von allen Seiten einschließen. Nur ein
blauer Schein fällt vom Himmel auf das Haus und die Vorderbühne;
die Umgebung liegt in einem aggressiven, orangefarbenen
Dunst. Als es heller wird, erkennt man eine solide Mauer von
Wohnblocks rund um das kleine, zerbrechliche Eigenheim.
Eine traumartige Stimmung liegt über der Szene, ein der
Wirklichkeit entrückter Traum. Die Küche im Mittelpunkt wirkt
ziemlich real durch einen Küchentisch, drei Stühle und einen
Eisschrank. Aber keine anderen Einrichtungsgegenstände.
Im Hintergrund (...)
Immer wenn die Handlung in der Gegenwart spielt, achten die
Darsteller auf den imaginären Grundriss und betreten das Haus
nur durch die Tür auf der linken Seite. In den Szenen aus der
Vergangenheit jedoch gibt es solche Grenzen nicht, und Personen
kommen und gehen durch die Wand auf der Vorderbühne.
Das Bühnenbild von Magdalena Gut dagegen zeigt – auf der Drehscheibe
– den Kreislauf einer Welt, aus der es kein Entrinnen mehr
gibt oder nie gab. Die Betonung der Wiederholung im Bühnenbild
setzt den Widerspruch zwischen dem Sich-etwas-vormachen und
der realen immer gleichen Bewegung direkt in Szene.
TURANDOT, PRINZESSIN VON CHINA: Schiller sieht für den
Ersten Aufzug vor: Prospekte eines Stadttors. Eiserne Stäbe
ragen über demselben hervor, worauf mehrere geschorne, mit
türkischen Schöpfen versehene Köpfe als Masken und so dass
sie als eine Zierrat erscheinen können, symmetrisch aufgepflanzt
sind. Die Übertragung im Bild von Mathis Neidhardt ins Heute,
in unserer Zeit, die Welt des Alles oder Nichts und Jeder kann
gewinnen, in der Rätsel Quiz heißen. Das Studio als Welt, die
nur dazu dient, ausgestrahlt zu werden. Vermeintlich Freiheit
gegen Freiheit, Entscheidung gegen Entscheidung in einem
Zustand, in dem es beides so nicht mehr gibt.
2. DIE SPRACHE DES RAUMES
Bilder und Räume werden geschaffen, ohne die Texte oder die
räumlichen Vorstellungen der Dramatiker zu illustrieren, die
entschieden von der Theaterpraxis und den Bildern ihrer Zeit
geprägt sind. Was sind „die Stadt“, „ein niederländisches Dorf
bei Utrecht“, eine „wohnliche Küche“, „der königliche Palast“,
ein „geschmacklich fragwürdiges Bekleidungsgeschäft“?
Etwas, das so nicht im Text steht und damit auf der Bühne
nicht ausgesprochen wird. Es sind Szenografien, d.h. Bildwelten,
die erst mit Hilfe unserer Einbildungskraft visualisiert werden.
Obwohl der italienische Zeichentheoretiker und Romancier
Umberto Eco, der den Begriff Szenografie so verwendet, dabei
gar nicht an Bühnenbilder denkt, ist er dafür sehr geeignet.
Eine Szenografie ist für Eco ein virtueller Text oder eine konzentrierte
Geschichte, die nicht auf sprachliche Zusammenhänge
beschränkt bleibt, sondern direkt in Bilder übergeht oder übergehen
kann.
Einige beziehen sich auf das, was man an nachfolgenden Ereignissen
erwarten kann, andere auf das, was man tun muss,
wenn diese Erwartungen nicht bestätigt werden. Was Umberto
Eco für die Sprache und literarische Texte beschreibt, lässt sich
auf Orte und Räume beziehen. Konkret geht es also zunächst
darum, den Ort Bühne so zu kennzeichnen, dass er als ein spezifischer
Ort, und sei es als Bühne auf der Bühne, gesehen werden
kann, der dann eine Vielzahl von Brüchen und Irritationen aushält.
Jede neue Zuordnung von Menschen und Objekten zu Ort
und Raum ist ein Spiel zwischen Erwartetem und Unerwartetem.
Nur so ergibt sich ein Zugang zu der spezifischen Zweideutigkeit
der theatralischen Darstellung: Was ist real und was Illusion.
Zwischen Illusion und Realität und Imagination bewegen sich die
Ausdrucks- und Darstellungsformen des Theaters. Sie sind nie
selbständig, nie autonom, entscheidend ist ihr Gebrauchswert
innerhalb einer Aufführung.
Es gibt durchaus die Notwendigkeit, Vorgaben zu erfüllen, um
ein Stück geschehen zu lassen. In Feydeaus FLOH IM OHR,
O’Caseys DAS ENDE VOM ANFANG, Yasmina Rezas DER GOTT
DES GEMETZELS hilft nur die pedantische Erfüllung der Vorgaben.
Yasmina Rezas Stück braucht zwar keine Tür, aber die
Genauigkeit im Detail, im Gegenstand: das Telefon, den Kuchen,
den Fön, die Katalog-Reproduktion. Die „Erfindung“ liegt in der
Ausführung. An solchen Stücken wird außerdem die Bedeutung
des Abstandes, der Distanz zwischen den Personen und Objekten
deutlich. Die tragische Sprache lässt jede Entfernung zwischen
den Handelnden zu, solange es sich nicht um bürgerliche
Situationen handelt. Die Komödie, und nicht nur sie, verlangt
die Reichweite der Figuren. Proxemik ist das Wissen, „dass es
keine noch so geringe Veränderung der räumlichen Distanzen
zwischen zwei Menschen gibt, die nicht eine differenzierende
Bedeutung hätten“ (Umberto Eco). Eine der Notwendigkeiten des
Bühnenbildes besteht darin, einen wie auch immer gearteten
Raum zu schaffen, in dem sich alle Beteiligten treffen können,
ohne irreale, beliebige Begründungen.
Denn das Bühnenbild steht nie für sich allein. Das ist seine Besonderheit.
Frei ist die Bühne nur im Verhältnis zur alltäglichen
Wirklichkeit; damit ist sie allerdings noch lange nicht beliebig
nutzbar.
3. ERFUNDENE UND GEFUNDENE RÄUME
Es sind zwei grundlegende Tendenzen des zeitgenössischen
Bühnenbildes festzustellen. Wesentlich ist, ob es als Zeichen,
Symbol, Metapher, Allegorie für etwas oder als Bilderzählung
von etwas verstanden wird. Dadurch wird bestimmt, ob es darum
geht, Räume zu erfinden oder Räume vorzufinden, vor allem
als transformiertes Zitat aus Architektur, Bildender Kunst und
Fotografie. Erfundene Räume fanden lange Zeit ihre Berechtigung
gerade in ihrer Künstlichkeit oder ihrer Besonderheit, darin,
dass sie für einen bestimmten Zweck geschaffen sind und
eben nur dazu: Theater zu spielen. Als aber Marcel Duchamp
die Gegenstände in das Museum holt und sie damit zur Kunst
erklärt, gibt es zunächst keinen Grund mehr, nicht auch Kunst
in andere, vorhandene Räume zu verlagern und diese Räume
damit zu verändern. Dabei geht es nicht nur um reale Räume,
häufig werden reale Räume auf die Bühne „übertragen“, häufig
inspiriert durch die Fotografie und Filme. Die Inspiration ist
gegenseitig: Mehr als das Theater ist derzeit die Bildende Kunst:
die Malerei, das Video, der Film, die Installation, alles Performative
dramatisch. Das war immer wieder so. Mit und vor Poussin wird
die Malerei schon im 18. Jahrhundert bewusst szenisch, um
ihren „statischen“ Charakter zu überwinden.
Das Bühnenbild ist nicht von den Tendenzen des sogenannten
Regietheaters zu trennen, positiv verstanden als konzeptioneller
Zugriff auf literarische Texte. Wie sollte ein Raum aussehen,
der nicht ein Konzept eines Raumes und damit auch ein Konzept
des In-Szene-Setzens eines Textes ist?
Solange es darum ging, Stücke daraufhin zu lesen, wie weit sie
einer als spätkapitalistisch-spätbürgerlich gesehenen Gesellschaft
„Werte“ entgegensetzen konnten, entwickelten Bühnenbildner
Kunst-Räume, die geeignet waren, zwischenmenschliche
Vorgänge und gesellschaftliche Verhältnisse, Zustände der
Gesellschaft auszudrücken.
Es ging darum, mit dem Raum etwas zu erzählen, was der Text
so nicht aussagte. Mit den „Zitaten“ einer sich unhistorisch
gerierenden Postmoderne oder einer sich als selbstreflexiv de -
finierenden, im Theater aber nur ironischen, „Zweiten Moderne“
verliert der Raum die Aufgabe, Bezüge herzustellen, er genügt
sich selbst. Bedeutung wird nicht hergestellt, sondern den
Phänomenen als solchen beigemessen. Äußerlich ist dies häufig
daran abzulesen, dass Bühnenräume nicht als imaginative,
d. h. als über die Rampe hinaus ergänzbare Räume entwickelt
werden, sondern als selbstbezügliche, auf die Bühne gesetzte
Objekte und Materialien.
4. ORTE DER IMAGINATION
Das Bühnenbild ist ganz und gar künstlich. Das fängt schon
damit an, dass in einen geschlossenen Raum ein Raum gebaut
wird – dies ist eines der Paradoxe des neuzeitlichen Theaters.
Auffällig ist, dass die Außenräume der dramatischen Literatur
fast durchwegs als Innenräume dargestellt werden. Oft abgeschlossen,
nicht ohne weiteres betret- oder verlassbar. Und so
gibt es im aktuellen Theater nur noch Innenräume, geschlossene
Stationen ohne Aus-, Auf- und Abstieg. Der Ort der Ausweglosig -
keit zwischen Leben und Tod. Dante beschreibt im 4. Gesang
der Göttlichen Komödie einen solchen Ort als limbus, dessen
Bewohner hoffnungslos in Sehnsucht leben. Das Theater der
Renaissance dagegen zeigte ausschließlich den städtischen
Außenraum, die Straße und den Platz, die Öffentlichkeit.
Unsere Vorstellungen und Wahrnehmungen vom Visuellen, vom
Bild im Besonderen haben sich gewandelt. Vor allem unsere
Erfahrung mit bewegten Bildern, mit deren Dynamik und All ge -
genwärtigkeit. Erinnern wir uns, dass einmal – mit der Kulissenbühne
und gemalten Prospekten – die ersten bewegten Bilder
geschaffen wurden. Dieses Privileg wird heute vielfach an die
bewegten Bilder der Videoprojektion abgegeben.
Die Bühne ist ein Ort, der nichts Eigenes hat, ein Ort der Imagination.
Eigen ist er darin, dass er keinem anderen Zweck dient
als dem Theater. Michel Foucault sieht in ihm eine der von ihm
so genannten Heterotopien: ein Ort, der auf dem Viereck der
Bühne eine ganze Reihe von einander fremden Orten folgen lässt.
Es gibt (...) gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl
sie tatsächlich geortet werden können. Weil diese Orte ganz
andere sind als alle Plätze, die sie reflektieren oder von denen
sie sprechen, nenne ich sie im Gegensatz zu den Utopien die
Heterotopien. Die Bühne ist eine solche Heterotopie: ein
Imaginationsarsenal.
Theater ist nicht die Welt – und trotz aller Inszenierungen des
Alltäglichen ist die Welt auch nur im literarischen Zitat ein
Theater. Aber Theater kann in seinen Inszenierungen Welten
erschaffen, virtuelle Welten, die realer sind als die wirkliche
Welt, in der wir leben. Die Voraussetzung dafür ist allerdings,
sowohl die Wirklichkeit des Alltags wie die fiktiven Wirklich -
keiten nicht außer Acht zu lassen; immer wieder neu sind ihre
spezifischen Schnittstellen zu suchen, sind sie nicht antago -
nistisch, sondern dialektisch zu verstehen.
5. DAZWISCHEN: ZWISCHEN KUNST UND LEBEN
Die Besonderheit der Kunst des Theaters ist die Zwischen -
stellung zwischen Leben und Darstellung möglicher Leben oder
vielleicht besser von Lebensmöglichkeiten, zwischen Realität
und Illusion. Ich verwende hier den Begriff Illusion trotz seiner
negativen Konnotation bewusst, durchaus auch im Sinne der
Täuschung. Allerdings geht es um die Täuschung der Sinne,
nicht der Vernunft, sodass Imagination entstehen kann als
bewusster Wachtraum von anderen Welten, von wirklichen
Möglichkeiten. Denn Theater produziert Bewusstsein, keine
Fakten, nicht Wissen, aber sinnliches Bewusstsein. Es kann
die Möglichkeit sein, Erfahrungen zu machen, die so anders
nicht mehr gemacht werden. Eine gewisse Konjunktur hat
aktuell die Illusion des Authentischen, die dem Kult des Subjektiven
geschuldet ist und sich selbst nicht als Illusion sieht.
6. SEHEN UND GESEHEN WERDEN
Seit der Renaissance ist die Geschichte des Theaters eine Geschichte
des geschlossenen Raumes und des Blickes – und
erst dann die Geschichte der Geschichten und der Bewegung,
dem Tun der Menschen. Die Darsteller sitzen im Publikum, sie
sehen, sie entdecken die Bühne als ihre Welt, als die Welt ihrer
Einbildungskraft.
Bestimmt werden die Bühne und der Zuschauerraum seit Ende
des 16. Jahrhunderts durch die Inszenierung des Blickes, durch
den Ausschnitt, die Rampe und das Portal. Er ist ein Raum der
historischen Architekturtheorie. Dieses Theater ist (...) eine
ideale Darstellung der Stadt. Dazu stellt es eine Verbindung
zwischen dem Theaterraumideal des römischen Architekturtheoretikers
Vitruv und den neuen perspektivischen Systemen dar.
(Dan Graham) Die Perspektive funktioniert dabei zugleich als
„Wissenschaft vom Sehen“ wie als „Kunst der Illusion“ (Christine
Buci-Glucksmann). Die Architektur bestimmt den Raum von der
idealen Sicht des Einzelnen, des Subjekts her. Dadurch wird der
Zuschauer in die Lage versetzt, sich als Schöpfer seines jeweils
eigenen Bildes zu fühlen, durch die Art und Weise seines Sehens.
Wichtig ist dabei, dass Sehen als ein aktiver Vorgang aufgefasst
wird, als ein wesentlicher Teil der Bestimmung des Verhältnisses
von Individuum und Welt, zunächst in der architektonisch hergestellten
Doppelsicht auf Herrscher und Herrscherpräsentation,
auf die zentrale Herrscherloge und auf die Bühne wie im Cuvilliés
Theater, und dann mit dem ungeteilten Blick auf die Bühne, die
immer mehr vom Bild zum Raum wird.
Der geschlossene Theaterbau ist als Ort, zuerst als Teatro Olimpico
in Vicenza (1585), ein Konstrukt der Architektur unter Beteiligung
der Bildhauerei und Malerei. Seine Wirkung ist ganz und
gar auf die optische Täuschung gerichtet. Und so bleibt es eine
lange Zeit mit ganz wenigen Ausnahmen, der sogenannten
Shakespearebühne des elisabethanischen Zeitalters und den
Corrales-Bühnen des spanischen Goldenen Zeitalters, bis die
historischen Avantgarden und Neo-Avantgarden, Dada, Surrealismus,
Futurismus, Fluxus, das Verhältnis von Akteuren und
Zuschauern generell infrage stellen. Der Guckkasten ist dabei
zu einem Schimpfwort geworden, wurde aber immer schon als
etwas anderes verstanden als der Bildraum der Bühne, nämlich
als eine abgeschlossenen Kiste mit Bildern, und wird seit dem
18. Jahrhundert kritisch für schlechtes Theater gebraucht. Das
Grimm’sche Wörterbuch bietet eine Reihe von Beispielen für die
Unterscheidung zwischen den starren, mechanisch aufeinander
folgenden Bildern des Guckkastens und den lebenden der Bühne.
Die Bühne wird von Anfang an durch die Frage der Raumwahrnehmung
und des bewegten Bildes bestimmt: vom starren
Raumbild zum dynamischen veränderbaren Raum. Theater ist
seitdem die von Spannung und Reibung geprägte Konkurrenz
und Auseinandersetzung von Bild und Text in einem Raum, der
von der Architektur geschaffen und erst dann von der Literatur
und den Schauspielern besetzt wurde. Dem Sehen als aktiver
Wahrnehmung und der Wahrnehmung des Sehens kommt dabei
eine entscheidende Bedeutung zu. Ein ästhetisches Problem war
und ist die anhaltende Auseinandersetzung mit der Perspektive
und damit mit Portal und Rampe. Der Zugang aus dem Zuschauer
raum auf die Bühne und von der Bühne in den Zuschauerraum,
bei uns Bestandteil mehrerer Bühnenbilder von Jürgen Rose
und in ANDROKLUS UND DER LÖWE, ist bis zum Barock „normal“.
Im Residenz Theater variabel und damit als Bestandteil des
Bühnenbildes eingesetzt.
7. DIE REALITÄT
Der reale Ort dieser Wirklichkeiten in unserem Theater sind die
Bühnen des Residenz Theaters, des Cuvilliés Theaters und der
Marstall. Sie bilden den besonderen Ort der Auseinandersetzung
zwischen realer und fiktiver Welt. Hier wird die jeweils neu zu
formulierende Frage nach dem Menschen und seiner Menschlichkeit
gestellt.
Die konkreten Voraussetzungen und Bedingungen des Bühnenbildes
sind die Bühnenräume und ihre spezifischen Bedingungen.
Die Bühnen unseres Theaters sind:
– im Residenz Theater: 18,40 × 22,23 m mit einer maximalen
Portalbreite von 12 m und ca. 880 Plätzen;
– im Cuvilliés Theater: 18,85 × 17,20 m mit einer Portalbreite
von 10 m und ca. 500 Plätzen;
– im Marstall: 18,59 × 20,12 ohne Portal und zwischen 160 und
200 Plätzen.
Die Maße sind von Bedeutung: Wie tief lässt sich ein Raum
bespielen? Was bedeuten links und rechts auf der Bühne?
Was ist ein guter, was ein richtiger Auftritt?
Unsere Theaterräume sind drei historische Modelle: der aristokratische
und der demokratische Repräsentationsraum und
der „gefundene – zweckentfremdete – Raum“, die Raumbühne
der Moderne. Historisch und ideologisch sind die Relationen
der Bühnen und Zuschauerräume, die Sichtverhältnisse und
die Gestaltung der Zuschauerräume. Die „historisch-ideolo -
gische“ Dimension hat Auswirkungen auf die Gestaltung der
Räume, auf das Bühnenbild. Der erste Ansatz jedes Bühnen -
bildes ist die Erweiterung oder Verweigerung der Raumwahrnehmung
über den konkret vorhandenen. Die Mittel des
Theaters unterliegen früh Bedingungen, welche bis heute mehr
oder minder konstant geblieben sind: das Portal, die optische
Begrenzung des Bildausschnittes, die Vorbühne und die Rampe,
die Trennung von Publikum und Schauspielern. Vielleicht haben
sich diese „Behinderungen“ deshalb so hartnäckig gehalten,
weil sie für Text und Bild, das historische wie das mediale,
gleichermaßen von Bedeutung sind.
Eine „Erfindung“ ist die konzeptionelle Setzung des weißen
Bühnenhauses im Residenz- und Cuvilliés Theater – und vorher
schon in den Münchner Kammerspielen durch Dieter Dorn und
Jürgen Rose. Die Assoziation des white cube liegt nahe, der
zum Ausstellungsraum der konzeptionellen – minimalistischen
Moderne wurde. Der weiße Raum ist ein Statement. Die Klarheit
des Bühnenraumes führt zur Genauigkeit, bekennt sich zu der
Auffassung, dass Theater „der Ort der unendlichen Verantwortung“
ist, denn alles, was hier stattfindet, ist beabsichtigt,
gespielt und inszeniert, bewusst gemacht. Die Auffassung eines
Theaters, das imaginiert, verwandelt, überrascht und argumentiert,
die Kommunikation mit dem Zuschauer sucht. Die weißen
Bühnenhäuser begünstigen das Spiel mit optischen Täuschungen,
wie sie Jürgen Rose vielfach für Stücke von Botho Strauß genutzt
hat. Sie ermöglichen Verdoppelungen, wie sie Magdalena Gut
in DIESSEITS anwendet, von Spiegelungen und dem Neben -
einander von dreidimensional gebauten Objekten und Flächen.
Damit erhalten Malerei und Spiegel Bedeutung im Raum, nicht
nur als Widerspiegelung, sondern als Erweiterung der Wahrnehmung.
Sie sind zudem Möglichkeiten der Simulation des
Raumes: ihn zu vergrößern oder zu verkleinern. Das Weiß der
Räume ermöglicht die Täuschungen, begünstigt das Sehen und
den Genuss am Sehen.
Es prägt über alle Unterschiede – durchaus auch Differenzen –
hinaus die Ästhetik des Bühnenbildes am Bayerischen Staatsschauspiel
(auch der Raum des Theaters im Haus der Kunst
war hell). Unabhängig davon, ob das Bühnenhaus gezeigt oder
verdeckt wird.
Ob man Voraussetzungen als Behinderung oder als Anlass zur
produktiven Reibung versteht, ist unterschiedlich, entscheidet
aber darüber, ob es um Intervention oder Innovation geht. Jene
ist inzwischen weitgehend nur noch eine ironisch-zynische
Geste, diese der Versuch zur Veränderung, zumindest zu veränderten
Einsichten.
7. NEUE ORTE SIND:
Das Haus des Admet und der Platz davor (ALKESTIS), Die Mancha
(DON QUIJOTE), Herrschaftsvilla in Döbling (RITTER, DENE, VOSS),
Die kleine Stadt W. und die große Stadt B. (VON MORGENS BIS
MITTERNACHTS), Im Budapester Stadtwäldchen. Ein entlegener
Platz, von Bäumen und Strauchwerk umgeben, zu dem ganz
leise das Geräusch der Stadtwäldchen-Vergnügung herüberdringt
(LILIOM).
HANS-JOACHIM RUCKHÄBERLE