Wintersemester 2018/2019, BA/MA Textil- und Material-Design Textil_Startseite
bio®evolution
Evolution durch Selektion (1) ist der Prozess, durch den die Organismen und Systeme der Natur in ihrer Konstruktion und Leistung immer auf einem aktuellen Stand bleiben. Das Ergebnis ist eine Natur, die in ihrer Mannigfaltigkeit und Komplexität historisch und bis heute eine unerschöpfliche Inspirationsquelle und Referenz für die Gestaltung der menschlichen Umwelt bildet und als Modell für viele Künstler, Designer, Architekten und Ingenieure dient.
Textilien sind Teil dieses Austauschs und seit jeher durch die Natur inspiriert worden – von detailreichen Blumendrucken und Stickmotiven über feine Leinen, sinnliche Seiden und weiche Wollstoffe bis hin zu spektakulären Modekreationen von Designern wie Christian Dior oder Alexander McQueen. Ganz abgesehen davon, dass sie im Wesentlichen selbst aus der Natur stammen. Aber da liegt auch das Problem. Die heutige Nutzung der Rohstoffe hat zunehmend desaströse Auswirkungen auf unser Ökosystem, u.a. massive Umweltverschmutzung, hoher Energieverbrauch, ungebremste Ausbeutung von Flora und Fauna (2). Die Natur gerät immer mehr aus dem Gleichgewicht. So belegt der Living Planet Index, der mehr als 4.000 Tierarten weltweit erfasst, einen durchschnittlichen Rückgang der Populationen seit 1970 um 60% (3). Der Bericht des Weltwirtschaftsforums sieht im Verlust der biologischen Vielfalt und dem Niedergang der Ökosysteme größere Risiken als im Terrorismus (4). Im 21. Jahrhundert, dem Zeitalter des Anthropozäns, wird der selbstverursachte Klimawandel zur größten Herausforderung der Menschheit (5) und die ökologische Krise zu einem zentralen Thema der politischen und ökonomische Debatte. Von den internationalen Regierungen wird er jedoch immer noch nicht genügend ernstgenommen, wie die Klimaaktivistin Greta Thunberg auf dem UN-Klimagipfel 2019 in New York betonte: "Wir stehen am Anfang eines Massensterbens und alles, worüber ihr reden könnt, sind Geld und Märchen vom ewigen Wirtschaftswachstum – how dare you! (6)“
Im Rahmen des Projekts haben wir uns mit unserer komplexen Beziehung zur Natur aus der Perspektive des Designs beschäftigt, uns aber auch mit der Zukunft unserer Gesellschaft in Bezug auf unsere natürliche Welt auseinandergesetzt. Ausgehend von Flora und Fauna untersuchten wir biologische Systeme als Modell, Maßstab und Vorbild für die Entwicklung neuer Gestaltungskonzepte, Lösungen und Strategien im Rahmen des Textil- und Flächendesigns. Die Erforschung verschiedener Naturphänomene – Strukturen, Konfigurationen und Mechanismen von Oberflächen in der Natur – diente als Inspiration und Grundlage, um eigene Experimente mit Textilien und anderen Materialsystemen zu entwickeln und zugleich auf aktuelle ökologische und politische Kontexte Bezug zu nehmen.
In Kooperation mit der Neuen Schule für Fotografie und deren Studierenden.
LEEK LINES – Madleen Albrecht
Wie kann die unscheinbare Pflanze Porree in ein haltbares und
ästhetisch reizvolles durchlässiges Textil transformiert werden?
Porree ist ein regionales Gemüse und lässt sich das ganze Jahr ernten. Dabei ist er nicht nur als Nahrungsmittel verwendbar. Aus den äußeren Blättern, die aufgrund der beim Kochen freigesetzten Zellulose miteinander verkleben, lassen sich transluzente Flächen unterschiedlicher Größe herstellen. Die inneren Blätter und die Wurzeln eignen sich wiederum als Grundmaterial für Garne. In beiden Fällen können durch die Zugabe von Glycerin Flexibilität und Haltbarkeit zusätzlich erhöht werden.
Unter Gestaltungsaspekten sind insbesondere die natürliche Farbvielfalt, von tiefem Grün bis Honiggelb, sowie die Struktur der feinen, linienförmigen, parallel angeordneten Blattadern interessant. Darüber hinaus weist Porree auch noch antibakterielle Eigenschaften auf. Alles in allem perfekte Gründe, um weitere Verwendungsmöglichkeiten als Textil-/ Verpackungsmaterial, Raumelement oder für dreidimensionale Objekte zu erforschen.
Die Kleidungsstücke der „Leek Lines“ BioCouture verkörpern einen unmittelbaren Naturbezug und fügen sich nahtlos in einen ökologisch geschlossenen Materialkreislauf ein. Das Ziel ist auch, über die Textilien ein Bewusstsein für deren Zusammenhänge zu erzeugen und so kritisch auf die Wegwerfkultur einer konsumorientierten Modebranche hinzuweisen.
(re)shape – Sara Hassoune
‚The structure of a fabric or its weave - that is, the fastening of its elements of threads to each other - is as much a determining factor in its function as is the choice of the raw material. In fact, the interrelation of the two, the subtle play between them in supporting, impeding, or modifying each other’s characteristics, is the essence of weaving.‘ - Anni Albers 1965
Die Besonderheit eines Gewebes resultiert nicht nur aus den jeweiligen gestalterischen Vorgaben, sondern auch aus den Eigenschaften der verwendeten Materialien und Strukturen. Wenn man diesen zwei Parametern Raum gibt, bestimmen sie das Ergebnis mit. Bei gewebten Textilien tritt dieser selbstorganisierende Mechanismus besonders hervor, wenn Garne mit stark kontrastierenden Eigenschaften eingesetzt werden. Aus dem Zusammenspiel von Faser, Garndrehung und Webstruktur können unerwartete Texturen entstehen. Die Gewebe (ver)formen sich von einem glatten, flachen Zustand zu dreidimensionalen Oberflächen im selbenMoment in dem sie vom Webstuhl genommen werden, ganz ohne Nachbearbeitung.
Es werden zwei verschiedene Hauptrichtungen eingeschlagen.
Bei dem gezielten Einsatz von aktiven, elastischen Garnen in Verbindung mit passiven, steifen kann eine differentielle Schrumpfung erzielt werden. Durch Flottierungen der aktiven Komponente zieht sich das gesamte Gewebe zusammen. Bei der Verwendung zweier sehr unterschiedlichen Garnstärken schiebt sich das dicke Garn im Schuss des Gewebes über dem dünnen zusammen und es entstehen Wölbungen und Falten.
Anhand dieser Ansätze wird gezeigt welche Kombinationen die eher willkürliche, unvorhersehbare, vom Material geleitete (Ver)formung noch verstärken oder in ganz bestimmte Muster legen.
Die Arbeit zeigt Grundelemente eines Vokabulars der selbstorganisierenden textilen Formfindung.
TEXSEED - Thriving on Fabrics – Elisa Martignoni
Although apparently there is no obvious connection between fabrics and seeds, it is actually possible to find it if one thinks, for example, of the use of textile materials in agriculture. But the use of textiles in the field of agriculture does not lead deeper into the aesthetic and philosophical side of the connection of material elaborated by humans and nature.
TEXSEED is a project inspired by the concept of "Textile Farming" developed by designer Svenja Keune. Textile Farming proposes a framework for designing dynamic surface expressions using seeds, and integrating biological life cycles in the design of textile interiors in order to open processes of textile and interior design towards botanical and horticultural practices. The framework provides a complementary perspective on living with plants indoors and promotes expressions that bridge interior and exterior spaces, man-made and natural, passive and active. In this specific case, the project went into several aspects mainly focused on different states of lentil and linen seeds in relation to merino wool fabrics (handmade) and wool fabrics (unused or second-hand clothes). During the experimentation process, the seeds were used in different ways: in some cases watered for more than two weeks thus obtaining real plants and in other cases watered for 2 or 3 days thus interrupting their germination. Each sample had a different treatment and use, in some cases the seeds do not even appear because they were used only as a natural dyeing medium.
This is a project that requires patience, time, observation and dedication. Qualities often forgotten or difficult to apply in our hectic modern society.
The use of recycled or handmade materials is certainly a positive thing and at the same time a criticism of the relentless and tireless production of fabrics and clothing, the growth of a living being on the body of an object that represents on the one hand the result of a failed production system and on the other hand the growth of a living being on a surface that is completely passive/unconcious of this process.
Also is important to not forget that the act of taking care of a living being gratifies the soul and is a means that can be used as a mirror: taking care of something or someone means taking care of oneself at the same time.
Zwischentöne der Porifera – Marleen Bauer
Wie lassen sich die Charakterzüge des Schwammes und die An- mutung seiner Transformationsfähigkeit sowohl im metaphorischen als auch im bildlichen Sinn auf die textilen Fläche übertragen und kontextualisieren?
Porifera, lateinisch porus, “Pore“ - der Schwamm. Eine zellige Struktur, charakterisiert durch großporige Kapillare. Die Materie verbindet sich mit der Luft, nimmt Wasser auf und gibt es wieder ab. Zeichnet sich durch Transformationsfähigkeit und die Reaktion mit Wasser aber auch Wärme aus. Verkleinert und vergrößert sich, ist leicht und wird schwer. Das Wasser wird zum Bestandteil des Materials. Die Poren größer, schwerer, dann entzieht die Wärme der Materie wiederum die Feuchtigkeit. Synthetische Materialien machen sich diese Eigenschaften zu eigen, zeigen gleiche Charakterzüge in unter- schiedlichster Form. Ob fest, schaumig oder weich, grob- oder feinporig, nass oder trocken. Die ästhetische Anmutung bleibt gleich - organisch, unregelmäßig.
Luft, Wasser und Wärme werden in der Arbeit mit dem Schwamm zu gestalterischen Elementen und lassen verschiedene Abdrücke ent- stehen. Wie bei der natürlichen Performanz des Schwammes wirken im Arbeitsprozess aktive und passive Momente zusammen. Beide Zustände sind maßgeblich. In den Übergängen zeigen sich zahllose Varianten der Materialästhetik. Beinah zufällige eigenständige Prozesse, in ihrer Perfektion nicht wiederholbar. Ein Tanz von Momentaufnahmen des Materials: - Zwischentöne der Porifera.
Die Ambivalenz von organischen Wülsten & Falten – Lara Roche
Wie lassen sich die faltigen und wulstigen Strukturen des menschlichen Darms
in eine ästhetische Fläche transformieren, die nicht mit Scham und Ekel verbunden wird?
Der Darm umfasst den größten Teil des menschlichen Verdauungstraktes und ist oberflächlich betrachtet ein gewundener, ziehharmonikaförmiger Muskelschlauch. Jenseits seiner reinen Funktion ist er mit starken, ambivalenten Gefühlen belegt. Neugier und Faszination, Ekel und Scham werden gleichermaßen aktiviert. Obwohl jeder täglich mit ihm zu tun hat, wird er doch aus der öffentlichen wie privaten Wahrnehmung verdrängt. Daran ändert grundsätzlich auch die „Konjunktur“, die das Thema Darm in den letzten Jahren erlebt hat, nichts. Wird er sichtbar gemacht, nach außen geholt, bedeutet das automatisch einen heiklen Grenzgang zwischen Neugier, Anstandsgefühl und Übertretung.
Warum können seine Formen auch anziehend sein? Ist es das eigenständig Organische in seinen Falten und Wülsten, was die geheime Faszination bewirkt? Oder doch auch das Verbotene? Eine parallele Welt neben unserer sichtbaren, verborgen, aber immer präsent.
In diesem Projekt wird die Morphologie des Darms zur unmittelbaren Vorlage, um zu untersuchen, wie sich die Erscheinung einer tabuisierten und mit Scham behafteten Oberfläche in eine neuartige und gestalterisch reizvolle Ästhetik überführen lässt. Dabei werden die Formen und Farben des Körperinneren erforscht und die auf mikro- und makroskopischer Ebene gewonnenen Erkenntnisse auf verschiedenen Materialien und Techniken übertragen.
Herbstsonne – Saskia Buch
Wie lassen sich die zarten, zerbrechlichen Strukturen, Transparenzen und Verdichtungen der Lampionblume in textile Techniken oder Flächen übertragen und abstrahieren?
Diese Blumen begegnen uns erst zur Herbstsaison, aufwendig in Gestecken und Sträußen verarbeitet oder leuchtend orange in den Beeten. Es ist die Frucht ummantelnde Hülle, die unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht. Orangene papierartige Flächen, durchzogen von stützenden Adergeflechten ergeben die Form, die ihr den Nahmen gibt: Lampionblume. Mit der Zeit aber lösen sich die orangenen Partien auf und zurück bleibt die Tragestruktur, die einst die Hülle mit Nährstoffen versorgt hat.
Das Entwurfsprojekt basiert auf der Auseinandersetzung mit der Struktur und Materialität der Lampionhülle. Denn abgesehen von dem Gerüst, bildet auch der Zerfall der orangenen Haut inspirierende Formationen. Durch ihn ergeben sich zufällige Kombinationen aus Struktur, Transparenz und Verdichtung, die in der Arbeit zum Teil isoliert, aber auch miteinander vereint werden.
Die Variationen des Strukturgebildes werden mit Draht erzeugt und mit Web- und Stricktechniken zu unterschiedlichen Flächen weiterentwickelt. Die Verdichtungen der Oberfläche bestehen dabei aus Wolle oder Papier. In Kombination mit Draht wirkt die Wolle stark verdichtend und sehr grob, was eine Abstraktion der zufälligen Formationen bewirkt. Das Papier hingegen legt sich sanft um das simulierte Adergeflecht und schließt die Zwischenräume, sodass eine eher homogene, transluzente Fläche entsteht, mit graduell fließenden Lichtwirkungen.
Eine besondere Atmosphäre schaffen die Flächen, wenn sie hintereinander im Raum aufgehängt werden und sich visuell überlagern. Neben den Verdichtungen durch die jeweiligen Materialien selbst bilden sich so auch noch Verdichtungen auf der räumlichen Ebene. Durch das Verschieben der Flächen im Raum lassen sich immer neue Kombinationsmöglichkeiten und gleichzeitig spannende räumliche Schichtungen erzeugen.
yeni deri – Melis Kiran
Das Produkt der Fast Fashion Industrie: Wegwerfleder. Faszination Leder, ein sinnliches, luxuriöses Naturmaterial, das einst seine TrägerInnen jahrelang begleiten sollte, ist nun ein Massenartikel geworden. Die UN-Landwirtschaftsorganisation FAO geht von einer Produktion von jährlich 1,8 Milliarden Quadratmeter Leder aus. Im Verarbeitungsprozess werden die Häute der Tiere weich gemacht, gebeizt, gegerbt, gestanzt und zugeschnitten. Am Ende entstehen Kleidungsstücke, die wie eine „zweite Haut“ am Körper sitzen sollen. Komplizierte und aufwendige Schnitte, die allerdings schnell aus der Mode geraten.
Im Fokus des Projekts steht ein praktikabler Ansatz, gebrauchte Lederkleidung, die nicht mehr weitergenutzt wird, durch verschiedene Techniken zu neuen Flächen zu verarbeiten. Abgestuft nach dem jeweils verfügbaren Ausgangsmaterial kommen zwei verschiedene Verfahren zum Einsatz. Größere Schnittteile werden in Lederstreifen geschnitten und anschließend verwoben. Kleinere Schnittreste hingegen bilden das Grundmaterial für eine Art Pulver, das sich, vermischt mit Alginat und Glycerin, zu Flächenteilen gießen lässt. Die im Projekt verwendeten Kleidungsstücke stammen aus dem Textilhafen Berlin. Dort gesammelte Altkleidung wird über einen bestimmten Zeitraum und verschiedene Kanäle in den Verkauf gegeben, was übrig bleibt, wird dem Upcycling zur Verfügung gestellt oder entsorgt.
CUTIKULA – Gifty Amoateng
Die Cutikula der Insekten besteht aus einem flexiblen Hochleistungsverbundstoff, der als hauchdünne Schicht ihr gesamtes Außenskelett bis hin zum Flügel überzieht. Bei diesem bildet sie mit einer doppelten Lage die Membran und stabilisiert die innenliegende Gerüstkonstruktion. Das Material erfüllt mehrere Funktionen. Es bildet eine geschlossene Fläche, schützt die umhüllten Strukturen, ist elastisch und fast unsichtbar. Seine Funktion ergibt sich aus einer Verbindung von Material und Struktur.
Fokus dieser Arbeit ist jedoch weniger die Funktionalität der Cutikula auf eine textile Ebene zu übertragen, als bestimmte Grundeigenschaften von Material aus ihr abzuleiten und visuell und haptisch in einer kontrastreichen Komposition erfahrbar zu machen.
Das Potenzial der Arbeit liegt in der weiteren Erforschung der Materialität und der Funktion. Mit welchen anderen Materialien wären die Elemente umsetzbar? Gibt es eine unzerbrechliche, jedoch trotzdem fragil wirkende Alternative zum Porzellan? Könnte durch fluidere Übergänge zwischen weich und fest sogar ein Stoff geschaffen werden, der eine Schutzfunktion erfüllt ohne einzuschränken?
Referenzen:
1. Charles Darwin, 1859, On the Origin of Species
2. Fashioned from Nature, 2018, Edwina Ehrman, Emma Watson
3. The Living Planet Index, 2014. Living Plant Index (LPI) project. livingplanetindex.org/home/index
4. World Economic Forum, 27.10.2010.
5. Sir David Attenborough, English broadcaster and natural historian
6. Climate activist Greta Thunberg address world leaders at the 2019 UN climate action summit in New York www.theguardian.com/environment/video/2019/sep/23/greta-thunberg-to-world-leaders-how-dare-you-you-have-stolen-my-dreams-and-my-childhood-video (accessed on 23.Sept.2019)